„Drei Wochen, eintausend Kilometer. Eine Frau, ihr Rad und ein Zelt auf einer homerischen Reise.“
Nein halt, so geht das nicht: dauernd diese flachen Wortspiele, nur weil sich ein Tourismusverband das Wort La Velodyssee ausgedacht hat für eine Strecke, die mit der echten Odyssee so viel zu tun hat wie …
… okay, verstanden. Dann erzählen wir eben prosaisch. Aber episch war es trotzdem.
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Fangen wir am Anfang an: der war in Morlaix, einem Städtchen im Nordwesten der Bretagne mit einem beeindruckendem Viadukt und einem TGV-Haltepunkt. Hier lasse ich meine Reise beginnen (der offizielle Start der Velodyssee liegt 30 km weiter nördlich am Hafen von Roscoff). Für mich geht es ab hier nach Süden. Ich weiß nicht, wie weit in den Süden ich kommen werde. Und eigentlich ist es egal. Ich habe drei Wochen Zeit, das ist, was wichtig ist. Also fahren wir endlich los:
Erster September, Sonntag Mittag in der Bretagne mit bretonisch verhangenem Himmel. Der Zug spuckt uns, mein Rad und mich, nach anderthalb Tagen Anreise endlich aus. Ich nehme mir viel Zeit, das Gepäck ordentlich zu montieren. Und dann steige ich auf und rolle los – mit ein bisschen Herzklopfen. Es geht vom Bahnhof steil hinab in den Ort. Das Viadukt ist beeindruckend und absolut sinnvoll. Der Ort ist klein, grau und leer, schon im Vorwinterschlaf. Hier ist die Saison definitiv vorbei, falls sie je richtig da war. Mein Radweg ist brezelbreit ausgeschildert und führt schnell aus dem Nest raus in Richtung der ehemaligen Bahntrasse nach Carhaix (sprich Ka-‚räh) hinein in den Wald – und zwar steil nach oben. Gleich mal schieben, na toll.
Der Bahnradweg zieht mich weiter in das Innere der Bretagne, es geht die erste Stunde stetig bergauf, was sich unmittelbar auf meine Reisegeschwindigkeit auswirkt, ebenso wie die zweihundert Prozent Luftfeuchtigkeit und der vom Regen aufgeweichte Waldboden. An einem ehemaligen Bahnhof mache ich Pause, koche mir mit meinem neuen Kocher ein paar Nudeln und versuche zu verstehen, dass ich tatsächlich jetzt auf dieser Reise bin, auf die ich seit Monaten hingefiebert habe. Immer wieder kommen andere Radelnde vorbei, meist ohne großes Gepäck (es ist Sonntag) und immer, wirklich immer gibt es einen fröhlichen Austausch von Bonjours. Dann hält einer an und fragt, ob der wilde Beagle da hinten zu mir gehöre. Tut er natürlich nicht, und weil ich überhaupt keine Lust auf wilde Beagle habe, packe ich überstürzt zusammen und haue ab. Sorry, ich bin halt Team Katze.
Tagesziel für heute ist der Campingplatz in Carhaix, das wäre so bei Kilometer 50. Diverse Hochrechnungen ergeben, dass ich das nicht vor Schließung des Empfangs schaffen werde. Ich rufe an und erfahre, dass ich einfach rein kann und morgen die Formalitäten erledige. Der Campingplatz liegt etwas abseits der Route, was bedeutet, dass ich die komfortablen Steigungen, die so eine ehemalige Bahntrasse mit sich bringt, verlassen muss. Und hier fühle ich, was meine Kollegin vor dem Urlaub mir mitgab: „Die Bretagne ist nur schön mit e-Bike.“ Quatsch, geht auch ohne. Dauert halt nur länger, hat man mehr von. Ich finde den Campingplatz, er ist so leer, dass ich nicht weiß, wo ich mein Zelt aufbauen soll. Der erste Tag ist geschafft. Bald liege ich geduscht und gesättigt im Zelt und höre dem rauschenden Bach zu – und dem Regen.
Am nächsten Tag gibt es erstmal Croissants. Muss sein. Jedes französische Campingplatz-Croissant ist fünfzehn mal besser als alles, was es in Deutschland unter diesem Namen zu kaufen gibt. Außerdem soll der Regen auch irgendwann aufhören. Als ich endlich merke, dass die steten Tropfen auf meinem Zelt nicht mehr vom Regen kommen, sondern aus dem Baum über mir fallen, ist es schon zehn, und bis ich loskomme ist es elf. Als erstes führt mich mein Weg nach Carhaix hinein, denn ich will mir hier im örtlichen Touristbüro meinen Velodyssee-Passeport und meinen ersten Stempel abholen. Dieser Pass ist so ein Gimmick des recht rührigen Velodyssee-Tourismusverbands und soll Reisende weg vom Track in die anliegenden Orte locken, indem er an ihre Sammelleidenschaft appelliert. Was soll ich sagen? Es funktioniert.
Nach Carhaix geht es noch ein bisschen weiter auf dieser alten Bahntrasse, auf der die Sicherheitsbügel auch liebevoll an ihre Vergangenheit erinnern. Und dann auf einmal durch ein Dorf und links und – zack – ich stehe vor einem Gewässer und dem Schild nach Nantes. Ein bisschen verdutzt, weil ich es nicht auf dem Schirm hatte, schon am zweiten Tag auf den Nantes-Brest-Kanal zu treffen. Ich erhole mich aber schnell von dem Schrecken, mache Selfies und lass mich dann aber doch von einer Passantin fotografieren. Irgendwie ist es was besonderes, weil dieser Kanal wird die nächsten dreihundert Kilometer mein Begleiter sein und mich zur Loire bringen und damit quasi ans Meer. Bissi kitschig, ich weiß. Das passiert.
Der Kanal ist ein Wunderwerk der Technik und ein Faszinosum für Leute, die für ein Schiffshebewerk Umwege fahren. Unglaublich viele Schleusen zur Überwindung der zwei Wasserscheiden, alle durchnummeriert und mit Namen versehen. Viele mit Schleusenhäuschen und weiter Richtung Nantes, wenn der Kanal auch noch schiffbar ist, auch mit Schleusenwärter*innen. Und zwischendurch unberührte Natur, kaum Menschen, noch weniger Autos. Der Kanal schlängelt sich zu Anfang noch ein bisschen mehr, so dass hinter jeder Kurve ein neuer Eindruck abgespeichert werden muss. Ab und an auch mal ein Dorf oder sogar ein Städtchen, wo ich mir einen Stempel für meinen Passeport abhole. Pointivy, Rohan, Josselin, Bain.
Fahren – Pause machen – Essen suchen – Weiterfahren – Campingplatz suchen – Schlafen – Repeat.
Ganz so ist es natürlich nicht. Das Schlafen beispielsweise ist stark beeinträchtigt von Frieren. Es ist kalt geworden. Tagsüber fahre ich mit Merino-Jacke, manchmal noch zusätzlich die Regenjacke. Nachts muss ich eine lange Hose UND SOCKEN anziehen, und ich friere trotzdem. Es ist kalt und feucht und die Sonne tagsüber wärmt die Gegend immer nur kurz. Morgens wandern die Schnecken übers Zelt. Sowas zehrt an den Nerven und ich überlege mehr als einmal einfach in den Zug zu steigen und erst in der Provence wieder auszusteigen. Gut, dass es diesen Zug gar nicht gibt (und wenn, dann hätte er keinen Platz für Fahrräder) und es einfacher ist weiterzufahren. Auf den Campingplätzen habe ich immer wieder nette Gespräche mit anderen allein reisenden Frauen, die genauso frieren wie ich. Das wärmt auch ein bisschen.
Von zu Hause höre ich, dass es dort super heiß und trocken ist, dass sie aber in den nächsten Tagen ein Tief erwarten. Das bedeutet konkret, dass ich genau dieses Tief ein paar Tage früher erwarten sollte. Die Vorhersagen sind tatsächlich so, dass ich beschließe das in einem Hotel auszusitzen. Ich buche zwei Nächte in Nantes und freue mich darauf, mich und mein Zeug mal wieder richtig trocken zu bekommen. Und damit sich das Geld fürs Hotel so richtig lohnt, darf ich die letzten zwei Stunden nach Nantes hinein durch den strömenden Regen fahren. So richtig tropfnass komme ich im Hotel an. Die Dame an der Rezeption hat genug Größe, die Pfützen, die ich hinterlassen nicht zu bemerken.
Das war sie also, die erste Woche meiner Velodyssee, durch die wilde Bretagne mit ihren Eichenwäldern, dem berühmten Kanal, den dicken Wolken am Himmel, den Hügeln und den grauen Dörfern dazwischen. In der Rückschau und im Vergleich zu den nächsten Wochen, dunkel und kalt. Aber damit tue ich ihr Unrecht, der Bretagne. Sie ist schön.