Generalprobe, es ist dringend Zeit für eine Generalprobe. Für die Cyclassics. Endlich die hundertzwanzig Kilometer fahren, vielleicht auch mehr. Und mit den voraussichtlichen fünfhundert Höhenmetern. Diese Gedanken spuken schon länger in meinem Hirn herum.
Schon letztes Wochenende sollte es sein, aber da war es zu heiß, zu gewittrig, und so wurden es nur fünfundsechzig. Also dann nochmal. Ich frage beim Bruder an, der winkt aber ab, er ist überbucht. Der Mann dagegen sagt sofort ja. Wir wollen früh los, die Zeit nutzen, die der Sohn in seinem Teenagerkoma verschläft. Ich bastel eine Acht durch das Vilstal zusammen, weil die Landschaft dort ist hügelig (wegen der Höhenmeter), ich will dem Mann den Vilstalradweg zeigen (weil den mag ich), und weil es dort insgesamt schön ist.

Die eine Stunde, die eine Radfahrt hinaus aus dem Vorortgürtel kostet, ersparen wir uns durch zwanzig Minuten Autofahrt. So sitzen wir tatsächlich schon um acht im Sattel. Das ist schon mal gelungen. Gleich auf den ersten Kilometern fällt mir wieder dieses Hoppeln meines Rades auf. Nein, es ist nicht der Asphalt, weil der ändert sich ständig, während das Hoppeln bleibt. In meinem Kopf spielen sich schlimme Dinge ab, die mit geplatzten Reifen während schneller Abfahrten zu tun haben. Der Mann bleibt hinter mir, höflicherweise bremst er bergab auch, sein Zähneknirschen höre ich durch den Fahrtwind.

Nach einer Stunde erreichen wir Dorfen, den Schnittpunkt der Acht. Ich habe mich inzwischen entschlossen, den Schlauch lieber zu inspizieren. Der Mann macht es sich in einem Café bei Latte Macchiato und Eisbecher gemütlich, während ich so professionell und zügig wie möglich, weil vor Publikum, mein Rad verarzte. Siehe da, der Schlauch hat einen Flicken, der vermutlich unwuchtig das Rad zum Hoppeln brachte. Scheint nicht schlimm zu sein, trotzdem mach ich lieber einen neuen Schlauch rein. Der Mann, vom Eis gestärkt, pumpt ihn mir netterweise auf.

Weiter geht es, inzwischen auf dem Vilstalradweg, einer aufgelassenen Bahntrasse. Schön zu fahren, neben den Dörfern her, aber leider viel zu viele Querstraßen und -wege, die natürlich so angelegt sind, dass der Radverkehr Vorfahrt zu achten hat. Natürlich. Dies hier geht an den dortigen Tourismusverband: Wäre doch mal schön, wenn es anders rum wäre, zumal Autos und Räder etwa in gleicher Zahl vertreten sind. Und die Kopfsteinpflaster-Barrieren nerven auch. Aber sonst ist’s schön.
Zwischen Taufkirchen und Velden, beide jeweils an der Vils, telefonieren wir mit dem Sohn. Ihm geht es gut, aber so ganz wohl ist uns nicht, und deshalb beschließen wir die Acht ein bisschen abzukürzen. So geht es ohne großen Ostbogen direkt nach Schwindegg und von dort wieder nach Dorfen, mit Planungsfehler: Die sehr kleine Straße ist zu voll, auch am Sonntag rollen dort LKWs. Die neue Autobahn ist schon als Baustelle zu sehen. Hilft uns aber jetzt nicht.
Es geht gegen Mittag, die Sonne brennt. Mir ist heiß. Der Mann hat dann doch mal seine Jacke ausgezogen. Inzwischen fragt er nicht mehr nach meinem Puls und vergleicht mit seinem. Man sieht mir wohl an, dass mein Puls seinen um etwa 50 Punkte schlägt. Gewonnen. Aber auch nur hier. Ansonsten verliere ich immer mehr: Kraft, Laune, Zutrauen, Geschwindigkeit, um nur ein paar zu nennen. Diese Hügel sind nichts für mich. Ich erwarte, dass ich jeden Moment zusammenbreche. Tue ich natürlich nicht, aber fast. An einem sonnigen Hügelchen kippt mir der Kreislauf fast und die Fassung komplett weg.

Ich bin verzweifelt. Wie soll das denn jemals ein 120-Kilometer-Rennen werden mit einer MINDEST-Geschwindigkeit von sechsundzwanzig Stundenkilometern. Jetzt haben wir nicht mal hundert und der Schnitt ist Schitt. Da kann man man doch mal traurig sein.
Ich hatte nämlich wirklich das Gefühl, trainiert zu haben in diesem Jahr bis jetzt. Habe die viertausend Trainingskilometer, die ich mir vornahm, einen Monat vor Ablauf fast zusammen. Ja, das waren nicht immer „Ich-geb-alles“-Fahrten und es waren oft Anstrengungsvermeidungsstrategien im Spiel, hier zum Beispiel. Aber dafür bin ich im Winter gefahren, mit dem Mountainbike durch Schnee. Und solche Sachen bleiben mir halt eher in Erinnerung als die weniger rühmlichen.
Ich beschließe, mein Cyclassics-Ticket zu verticken. Ich will nicht vom Besenwagen von der Straße gekratzt werden. Außerdem habe ich eh noch kein Hotel für die Nacht vor dem Rennen gebucht. Vorausahnend?
Noch auf der Heimfahrt lese ich auf der Website der Cyclassics, dass die Frist für Ummeldungen noch am selben Tag ablaufen wird. Mist, also keine Chance, zu verkaufen. Zumal es eh noch Plätze auf dem ersten Markt gibt. Also verfallen lassen.
Gegen 22 Uhr, also zwei Stunden vor Ablauf, kommt der Mann mit der Idee, ich solle doch downgraden und die 60-Kilometer-Strecke fahren. Da sei der geforderte Schnitt nicht so hoch und die Strecke kürzer. Beides wäre näher an dem, was ich zurzeit leisten kann. Da hätte ich die Chance auf ein Erfolgserlebnis. Das stimmt natürlich. Ich habe zwei Stunden, mich zu entscheiden.
Zuerst schaue ich mir die Strecke auf komoot genau an, vor allem das Höhenprofil, google den Waseberg in Blankenese und erfahre dass der lustige 16% Steigung hat. Dann sehe ich aber die Bilder der Jedermänner und -frauen der letzten Jahre, die ihre Citybikes hier hoch geschoben haben. So what. Ich bin auch nur eine Jedefrau und noch dazu eine, die recht gut geübt im Radschieben ist. Also buch ich eine halbe Stunde vor Schluss um von Hundertzwanzig auf Sechzig, zahle die Strafgebühr und akzeptiere die Schmach Realität. So it goes.